Goldene Sonne auf der Haut, buntes Laub und neben mir sitzen die zwei anderen Freiwilligen, die schon richtige Freundinnen geworden sind. Auf einer Bank im Park genießen wir Zimtschnecken, die die eine für uns mit so viel Liebe gebacken hat. Im Hintergrund toben Kinder. Wir schauen auf die Uhr. Die Stunde ist um. Wir müssen uns verabschieden.
Ja, wir befinden uns jetzt alle im Lockdown und am Anfang habe ich mich gefragt, was ich überhaupt in meinen Blog schreiben kann. Aber dadurch, dass die Schulen geöffnet bleiben, ist mein Leben spannender, als ich vermutete.
Zum Beispiel hatte ich ein interessantes Gespräch mit einer der Deutschlehrerinnen, wodurch mir klar wurde, was der Lehrerjob bedeutet. Sie meinte, sie hat durch mich verstanden, warum Lehrer häufig in ihrer eigenen Welt leben. Denn da ich ihren Unterricht begleite, bekommt sie eine Außensicht auf das, was sie tut. Die Eigenheiten eines Lehrers begründete sie mit der ständigen Wachsamkeit, die man vor und während des Unterrichts haben muss. Folgende Szenarien sind denkbar:
Es gibt Plan A – da läuft alles perfekt.
Es gibt Plan B – bei Schülern am Freitagnachmittag oder vor der Mittagspause.
Es gibt Plan C – wenn die Technik ausfällt.
Und es gibt Plan D – wenn eine Freiwillige daherkommt und plötzlich eine spontane Idee hat.
Dieses Gespräch hat mir sehr geholfen, denn – oh Wunder – ich darf jetzt eine Grundschulklasse komplett allein unterrichten. Ich finde, das ist ein sehr großes Zugeständnis der Schule und ich bin meiner Tutorin so dankbar, die sich seit Wochen dafür eingesetzt hat. Vor dem Freiwilligendienst hätte ich mir nie erträumen können, dass ich tatsächlich eine Klasse allein unterrichten darf. Ich hätte mir das auch gar nicht zugetraut.
Zuerst einmal muss man sagen, dass in Frankreich die Kinder strenger erzogen werden. Sie sind diszipliniert, hören zu und sind motiviert. Gleich in der ersten Stunde wollten die 10-Jährigen alles aufschreiben, was sie auf Deutsch neu lernten. Sie führen teilweise selbstständig Vokabellisten. Am Ende des Unterrichts zeigten sie mir stolz ihre Hefte. Sie können jetzt schon „Ich heiße…“ und „Ich bin 10 Jahre alt.“ sagen und was macht einen nicht glücklicher als Fortschritt? So konnte ich sogar schon in der dritten Stunde einen kleinen Dialog mit ihnen beginnen. Begeistert vom „selber sprechen“ führten sie den Dialog dreimal, viermal, fünfmal auf bis es zum Unterrichtsschluss klingelte. Ich gehe jedes Mal gutgelaunt aus dem Unterricht mit dem Ohrwurm „Guten Tag, guten Tag“, der etwas nervig ist.
Aber wisst ihr, warum ich keine Grundschullehrerin werden möchte?
Die Verwechslungsgefahr zur Mutter ist meiner Meinung nach zu groß, denn man ist in diesem Unterricht nicht nur Lehrerin sondern auch Seelentrösterin, Zuhörerin Erzieherin, Beschützerin und vieles mehr. Und auch hier in Frankreich sind Kinder nun mal Kinder. Da kommen sie schon am Anfang des Unterrichts und berichten, dass sie Geburtstag haben oder ihre Maske kaputt ist. Das finde ich für den Moment schön aber auf Dauer kann ich mir das nicht vorstellen. Mich machen schon die ständig herunterfallenden Federmappen fertig. Und wenn einer anfängt laut „Miau miau“ zu rufen, machen alle mit. Ihr könnt euch vorstellen, dass sie so schnell nicht von einer Katze in einen langweiligen Schüler zurück verwandelt werden wollen. Sehr berührende Momente sind jedoch jene, in welchen einzelne Schüler am Ende des Unterrichts zu mir kommen und leise auf Deutsch „danke“ oder „tschüss“ flüstern. Auch die Vorbereitung macht eine Menge Spaß und es ist immer eine kleine Herausforderung die Balance zwischen lustig und ernst, spielerisch und zielorientiert oder still und aktiv zu finden. Das Lied „Im Radio ist ein Küken“ war jedenfalls ein voller Erfolg.
Von ganz klein ging es zu ganz groß. Denn endlich, endlich ist seit Wochen auch meine Deutsch-AG ins Rollen gekommen. Da ich über nur zwei Anmeldungen ein bisschen enttäuscht war, fragte ich nochmal einzelne Schüler persönlich, ob sie nicht doch Lust hätten, für eine halbe Stunde im sogenannten „Sprachencafé“ deutsch zu sprechen. Ich rechnete nicht damit, dass sie kommen. Ein Schultag geht hier teilweise von 8 bis 17 Uhr. Als Schüler wäre ich auch platt und würde jede freie Minuten für mich nutzen wollen. Umso überraschter war ich, als plötzlich acht Schüler zu meinem ersten Sprachencafé erschienen. Total aufgeregt wartete ich im Flur, von Lehrern wahrscheinlich als neue Schülerin angesehen. Doppelt so große Jungs liefen an mir vorbei und dann war der Moment gekommen, an dem ich eine Unterrichtsstunde für Schüler in meinem Alter halten musste. Davor ist es ein furchtbares Gefühl. Wie soll ich mit ihnen umgehen? Was ist, wenn die Technik ausfällt? Respektieren sie mich überhaupt? Normalerweise besteht die elfte Klasse aus über 30 Schülern und da könnt ihr euch vorstellen, dass es nicht meine Lieblingsklasse ist. Und die zwölfte Klasse ist unmotiviert, weil für dieses Jahr schon wieder in Frankreich die Abiturprüfungen abgesagt wurden und sie deshalb nicht verstehen, warum sie überhaupt noch zum Deutschunterricht kommen sollen.
Aber da die Schüler freiwillig zu meinem Sprachencafé gekommen sind, waren sie dementsprechend motiviert und lachten sehr über den Song „Millionär“ von den Prinzen. Ausdrücke wie „stinkend faul“, „großes Maul“ und „in den Knast kommen“ lernten sie mit Freude. Und auch der Titel des Albums „Das Leben ist grausam“ war ihnen in dieser aktuell verrückten Zeit sehr sympathisch.
Ab diesem Tag hatte ich wirklich das Gefühl, ich beginne mein Jahr noch einmal neu, denn mit zwei eigenen Klassen hat man doch wesentlich mehr Verantwortung, aber auch viel mehr Spaß.
Und außerhalb der Schule? Ja, da gibt es meine regelmäßigen Telefonate mit Freunden aus Deutschland und neuen Freunden aus Frankreich. Wenn ich Humor brauche, schaue ich mir im Fernsehen „Les Marseillais vs Le Reste du Monde“ an, eine Reality-Show in einer schicken Villa. Wie es so ist, sollen die 2 Teams gegeneinander antreten. Und nein, es geht nicht darum, ob „die Marseiller“ oder „der Rest der Welt“ gewinnt sondern um Liebesprobleme und Cocktails im Pool und um Abende mit reichlich Wein, reichlich nackter Haut und reichlich viel Augengeklimper. Und wenn Inès zum fünften Mal ihr Leid klagt, dass Illan eh nur mit ihr spielt, dann schaltet die Nestle Lion Werbung ein.
Ich fahre jetzt öfter Fahrrad und genieße noch das schöne Wetter in La Rochelle. Das ist der erste November nach Jahren, an dem ich mich nicht müde fühle. Mit Sonne ist alles so viel besser.
Der Markt ist natürlich immer ein Highlight. Die zwei anderen Freiwilligen und ich entdecken jeden Samstag neue Spezialitäten. Es gibt zum Beispiel einen Stand mit selbstgemachten Naan Brot und einen Stand mit heißen Maronen. Richtiges Weihnachtsmarktfeeling! Die eine Freiwillige hat sich vorgenommen, jedes Mal einen neuen Käse auszuprobieren und so stehen wir oft ratlos vor hunderten von Käsesorten. Emmentaler mit riesigen Löchern wie aus dem Bilderbuch, kleiner runder Ziegenkäse und supercremiger Brebis sehen jedes Mal so verlockend aus.
Überhaupt ist die Stimmung auf dem Markt sehr angenehm. Letztens hat mir der Verkäufer am Bäckerstand einfach einen Kaffee ausgegeben, weil das Gerät meine EC-Karte nicht annehmen wollte. So ist das hier, man hat Zeit und quatscht und quatscht und nach zwanzig Minuten fiel ihm ein, dass ich ja direkt neben dem Markt Bargeld abheben könnte.
Und wenn man sich umsieht, machen das alle Menschen so. Da man nun nicht mehr an winzigen Tischen seinen Kaffee rund um den Markt genießen kann, passten sich die Menschen an und stehen nun mit ihren Coffees-to-go herum und schauen trotzdem dem Treiben zu und plaudern, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Ob der Bürgermeister sich durchsetzen kann und Coffee-to-go-Stände wegen Covid verbieten wird, so wie er es angekündigt hat? Man weiß es nicht. Bisher wird auch noch nicht streng kontrolliert. Das heißt für uns: irgendetwas Leckeres kaufen und es am Straßenrand genießen, während fünf Meter weiter der blonde Straßenmusiker seine Lieder singt.
Einmal entdeckten wir den Laden Picard. Das ist einfach das Paradies für Faule: tiefgekühlte Haute Cuisine in kleinen Portionen. Man läuft durch einen Gang aus Tiefkühltruhen und man kann sich sein Menü zusammenstellen, was für Tiefkühlware qualitativ sehr hochwertig ist. Wer möchte nicht gern Lachs-Lollipops als Aperitif, Nusskuchen mit Jakobsmuscheln und Seehecht als Vorspeise, Tagliatelle mit Lachs und Kirschtomaten als Hauptspeise und als Nachspeise eine Tartelette mit Schokolade und gesalzenem Butterkaramel? Es ist alles zu haben. Für wenig Geld. Und wenig Zeit. Auftauen und genießen!
Ein anderes Mal stand bei unseren gemeinsamen Entdeckungstouren echtes deutsches Brot auf unserer Liste. Zwischen Brioche und Baguette versteckt sich nämlich ganz selten auch einmal ein etwas graueres Brot. Aber das reichte uns nicht. Zufällig entdeckten wir eine winzige Bäckerei „artisanal“, die gerade am Schließen war. Vorher gegoogelt, fragten wir nach einem „pain de seigle“ (Roggenbrot) und wie vom Himmel geschickt, gab es noch ein letztes. Rund, braun, wunderschön. Wir teilten es uns. Wir waren ihnen anscheinend so sympathisch, dass sie uns noch drei „chocolatines“ schenkten. Was für eine köstliche Überraschung! Mit so viel Liebe habe ich nicht gerechnet. Wie gern würde ich diesen Menschenzauber nach Deutschland mitnehmen und dort verteilen.
Das typisch französische Schokoladenbrot, ein Blätterteiggebäck mit Schokolade gefüllt, nennt man übrigens nur in Südwestfrankreich, also rund um Bordeaux und Toulouse „chocolatine“. In allen restlichen Regionen heißt es „pain au chocolat“, wie man es auch im Französischunterricht lernt.
Bleiben wir aber bei netten Menschen: ich habe nun engeren Kontakt mit einer anderen Freiwilligen an der Schule. Sie ist ein bisschen älter als ich und Französin, was mir Hoffnung bezüglich meiner Verbesserung im Französischen gibt. Denn das ist wirklich das Einzige, wo ich sagen würde, dass ich damit unzufrieden bin. So richtig verbessere ich mein Französisch nicht, weshalb ich mich jetzt auch bei Parkour, eine Plattform zum Französischlernen, angemeldet habe.
Denn, was man nicht vergessen darf, ist, dass ich in der Schule doch eher deutsch spreche. Für die Schüler ist es gut, denn ich denke, dass ich vor allem in der Aussprache sehr viel helfen kann. Es ist auch für die Deutschlehrerinnen besser, wenn man zu zweit in der Klasse herumgeht und den Schülern beim Texte schreiben hilft. Das spart Zeit und Nerven.
Aber auch der Kulturunterricht mit der achten Klasse und mit zwei Schülern der elften Klasse geht voran. Wie ich euch schon in dem vorletzten Blog erzählt habe, behandeln wir gerade das Thema DDR. Letzte Woche arbeiteten wir an einem größeren Projekt, in welchem die Schüler meine Eltern zum Leben in der DDR befragten. Interessant fand ich Fragen wie, warum man nach dem Mauerfall unbedingt nach Westdeutschland und nicht zuerst in andere Länder fahren wollte. Besonders spannend fanden sie auch den Intershop in der DDR und die persönlichen Geschichten meiner Eltern dazu.
Ich muss mir für später merken, dass die Kultur der Schlüssel zum Fremdsprachenlernen ist. Sobald es sich im Unterricht um deutsche Traditionen, Geschichte oder deutsche Gewohnheiten handelt, hören automatisch mehr Schüler zu. Die siebte Klasse war zum Beispiel begeistert von dem Sankt-Martinstag. Einer möchte unbedingt nach Deutschland und an einem Laternenumzug teilnehmen. Und ein anderer hat sogar am Wochenende mit seiner Familie Martinshörnchen gegessen. „Ich habe sie nicht geteilt“, erklärte er frech. Sie möchten, dass ich im Laufe des Jahres alle deutschen Feste vorstelle, so wie es bereits für die achte Klasse vorgesehen ist.
Tja, das heißt für mich jetzt erstmal Weihnachtsbildschirmpräsentationen in allen Formen vorzubereiten. Eine Präsentation zum Advent, eine zum Nikolaus, eine zu den Weihnachtstraditionen in Deutschland,… Und auch die Dresdner Stolle, die mir meine Eltern mitgebracht haben, wartet sehnsüchtig in meinem Regal darauf, von den Schülern vernascht zu werden.
Deutsche Weihnachtstraditionen sind so vielfältig und so schön! Hier feiert man weder Nikolaus, noch gibt es einen Weihnachtsmarkt. Ich freue mich so sehr auf Lebkuchen, Plätzchen, Glühwein, Stolle, Kartoffelsalat… Mit anderen Worten, ich habe das erste Mal wieder so richtig Vorfreude auf deutsche Weihnachten und freue mich, das mit den Schülern teilen zu dürfen. Plötzlich ist es der Job, sich mit der Heimat auseinandersetzen, während man selbst eine neue Kultur entdeckt. Ist doch merkwürdig oder?
Ich bin schließlich hier, um Werbung für Deutschland zu machen. Und das ist mir so richtig bewusst geworden, als mir die andere Freiwillige, die für den englischen Sprachbereich hier an der Schule verantwortlich ist, erzählte, was es für aufwändige Projektwochen zum Thema Harry Potter, Oliver Twist und der englischen Königsfamilie gibt. Und eigentlich gibt es hier Reisen nach Australien, den Niederlanden und den USA. Alles klar. Dieser Umfang an Reisen und Projekten sind auch das Ziel für den deutschen Sprachgebrauch.
Tschüssi und bis bald!
goldener Herbst im Park
leere Straßen aber immerhin geschmückt
Laternen zum Martinstag und Geburtstagsgrüße
wenn der Bäcker uns liebt und uns was ausgibt
Leckereien auf dem Markt
heiße Maronen und Naan – eine ganz große Liebe
der Laden für Faule
zum Schluss meine Schule in all ihrer Pracht