Das Zeitgeschenk

Vor einem Jahr habe ich von morgens bis abends Kunstskizzen gezeichnet, Texte geschrieben und Matheaufgaben gelöst. Das Abiturvorbereitungen habe ich noch nicht ganz vergessen. Ich wusste aber, nach der harten Plaquerei ist alles möglich. Heute, vor einem Jahr  in 12 Tagen werde ich die Zusage für den Freiwilligendienst bekommen haben. Den Schlüssel für ein Jahr Selbstgestaltung im Lieblingsland.

Doch genug nostalgische Schwärmerei, ich bin hier und noch ist es nicht zu Ende. Warum die Endzeitstimmung? Ich fange ganz von vorn an:

Alles begann mit dem Onlineseminar. Wir Freiwillige waren natürlich nicht motiviert, wieder ein Seminar vor dem Bildschirm zu verbringen. Demzufolge schaute man auch schon in der ersten halben Stunde in traurige Quadrate bei Zoom. Das Seminarprogramm war überhaupt nicht so, wie wir es uns vorgestellt hatten und es wurde sehr viel Eigeninitiative von uns Freiwilligen erwartet. Wir hatten keine Lust mehr und konnten uns auch nicht motivieren. Noch dazu träumten wir von den Pyrenäen, von Lagerfeuern und Wanderungen. Denn so hätte unser Seminar ohne die Pandemie ausgesehen. Glücklicherweise hatten wir in unserer Gruppe ein paar kluge Köpfe, die etwas ändern wollten. Und nach langen Gesprächen mit den Teamern stellten wir das Programm nach unseren Wünschen um. Kurz: es war genial! Wir lernten viel zur Zielsetzung, sammelten Ideen für die Unterrichtsgestaltung und wie es mit uns in Zukunft weiter gehen soll. Ich konnte für mich mitnehmen, dass ein zukünftiges Projekt nicht nur nützlich sein muss sondern auch emotional wichtig. Und so setzte ich auch sofort nach dem Seminar das Projekt „Reiten am Meer“ in die Tat um. Ich bin keine Pferdenärrin und doch reizte mich die Vorstellung des Reitens am Strand schon einige Wochen. In einer anderen Einheit setzte man sich konkret mit den Fähigkeiten auseinander, die man während des Jahres gelernt hatte. Wir haben Methoden beigebracht bekommen, die ich teilweise jetzt nach Wochen noch zusammen mit den Freiwilligen anwenden kann, wenn wir für etwas eine Lösung brauchen.

Besonders haben mir jedoch während der Woche der Fotoworkshop und die Poetry-Slam-Einheit gefallen. Ja sowas kann sogar online richtig Spaß machen, bzw. geht man für den Fotoworkshop natürlich raus. Mein absolutes Highlight? Das Wine-Tasting! Ihr wisst ja nicht, wie lustig, ein Online-Wine-Tasting sein kann. Für die eine Freiwillige schmeckt jeder Wein nach Schinken. Eine andere Freiwillige legt Wert auf das Weinhören. Und unsere Teamerin spickte die kleine Komedie-Show noch mit Infos wie: In Frankreich sind Weine aus dem Tetrapack angesagt und Deutsche füllen generell das Weinglas zu voll. Ich habe gelernt, dass man anhand der „Tränen“ des Weines den Alkoholgehalt abschätzen und anhand der Farbe die Sorte bestimmen kann.

So hat sich das Seminar doch zum Guten gewendet und wir sind alle mit neuer Energie und neuen Ideen wieder in die Schule gegangen.

Mit neuer Energie fand man uns drei Freiwillige aus La Rochelle, wie schon gesagt, auf dem Pferd wieder. Man muss dazu sagen, dass die Pferde ein bisschen so erzogen werden, wie die Kinder hier in Frankreich. Sie sind alle sehr sehr brav. Mein Pferd Asiatico war noch am „wildesten“, weil er ab und zu aus der Qeuleuleue tanzte, wie die Anführerin Marie liebevoll zu queue (Reihe) sagte. Es war schon ein kleiner Traum, der wahrgeworden ist. Doch nein, die Wellen sind keine Zuckerwatte und die Pferde keine Glitzereinhörner. So schön, wie es auch ist, weit hinaus aufs Meer zu schauen und sich dabei vom Pferd tragen zu lassen, man muss sich wirklich sehr konzentrieren, nicht aus der Balance zu kommen. Denn im Wasser hat man keinen festen Punkt mehr, alles dreht sich. Und Pferde stolpern und Pferde wollen sich hinlegen und Pferde wollen Spaß haben. Es ist nur ein Mädchen vom Pferd gefallen, ansonsten hat alles geklappt und wir sind im Rhythmus von „Chou, Carotte, Chou, Carotte, Chou ….“ zurück zum Reitstall getrabt. Bei Chou (Kohl) steht man auf und bei Carotte setzt man sich wieder hin. Was man nicht alles lernt. Unsere Anführerin hat es jedenfalls sehr gefeiert.

Und dann stand ja schon Ostern vor der Tür. Mein absolutes Lieblingsfest. Ich liebe es über alles, Eier zu färben oder anzumalen. Dieses Jahr konnte ich mir endlich richtig Zeit dafür nehmen. Schon vor einem Jahr habe ich geplant, mit den Schülern Eier anzumalen. Tja, ich dachte vielleicht so mit ein, zwei Klassen aber gleich mit 10? Letztendlich habe ich mit 250 Schülern Eier angemalt. Das war eine organisatorische Meisterleistung meiner Tutorin. Im Zeitraum von einer Woche war ich jeden Tag in anderen Klassen in der Grundschule oder im Kindergarten zu Besuch, zeigte eine Power Point Präsentation von Ostern in Deutschland und malte anschließend Eier an. Am Morgen bewaffnete ich mich immer mit einer Gartenschere und schnitt Äste im Schulgarten, die für die bezaubernden Ostersträucher gebraucht wurden. Es war eine tolle Erfahrung mit 3 bis 6 Jährigen zusammenzuarbeiten und um euren Tag ein bisschen zu versüßen, habe ich die besten Sprüche der Kleinen aufgeschrieben:

        Aber wenn man in Deutschland Eier an die Sträucher hängt, wie kriegen wir die Eier heute nach Deutschland?

        Geht das Ei kaputt? -Nein.-  Aber wenn ich mit dem Hammer draufschlage?

        Was heißt „rouge“ auf Deutsch?  -Rot.- Rot wie „crevette“?

        Wie heißt du? -Nadja.- Und auf Deutsch?

        Das ist ja toll, dass ihr in Deutschland Eier an die Bäume hängt. Ich persönlich finde das aber nicht sehr hübsch.

Es war auch sehr lustig, den Kindern zu erklären, dass man in Deutschland gefärbte Eier isst, denn in jeder Klasse haben wirklich 50 Prozent der Schüler geglaubt, dass es sich um Plastikeier auf dem Frühstückstisch handelte. Und wichtig ist, dass in Frankreich nicht der Osterhase kommt sondern die Osterglocken aus Rom. So fragten die Kinder, wie der Hase die Eier schleppen kann und ob es nur einen Hasen gibt. Hallo aber dass Glocken über Gärten schweben und Eier abwerfen, ist für die Kinder total logisch oder wie?!

Natürlich sorgt die Globalisierung auch in Frankreich für eine Schokohasenschwämme in Supermärkten… So ist der Hase den meisten Kindern bekannt. Bei einigen Familien kommt sogar der Osterhase, da viele Kinder englischer, spanischer oder sogar deutscher Abstammung sind. Meine Standartfrage war dann immer, bei wem kommt denn der Osterhase und bei wem kommen die Osterglocken? Das habe ich so lange gemacht, bis sich in einer Klasse ein Mädchen gemeldet hat: „Ich weiß es nicht, meine Mama versteckt immer die Schokolade.“

Die Süßigkeitenmarke „Kinder“, die von den Franzosen mit einem sehr betontem „r“ ausgesprochen wird, ist hier übrigens der absolute Favorit. Und ihr könnt euch vorstellen, was die Schüler für Gesichter gemacht haben, als ich ihnen die Bedeutung des Markennamens erklärt habe.

Am Mittwoch vor Ostern ist dann Folgendes passiert. Ich telefonierte noch stundenlang mit meiner Familie, obwohl ich wusste, dass Macron eine Ansprache hielt. Schon am Tag davor haben mir einige Freiwillige mitgeteilt, dass sie, ohne es böse zu meinen, mit einer Schulschließung in Frankreich rechneten. Das habe ich überhaupt nicht ernst genommen. Eine Schulschließung in Frankreich war für mich ausgeschlossen. Und dann las ich die Schlagzeilen und musste binnen weniger Sekunden verstehen, dass Macron da gerade einen Lockdown mit Schulschließung angekündigt hatte. Nach den aufregenden Wochen fiel ich erstmal in ein Loch. Und auch Bridget Jones konnte mir nicht helfen. Soll ich nach Hause fahren? Was bedeutet das alles? Geht der Lockdown länger als vier Wochen? Unsere Pläne, mit einigen Freiwilligen Ostern in Pau zu feiern und in den Frühlingsferien im Barbie-Dreamhaus-Airbnb fetzige Tiramisu-Feten zu feiern, waren erstmal Geschichte.

Doch letztendlich haben wir eine gute Lösung gefunden. Ich fahre nur für eine Woche nach Hause, außerdem arbeite ich zweimal in der Woche im Kindergarten in der Notbetreuung. Und natürlich kann ich mich mit zwei super süßen Freundinnen hier in La Rochelle und ihren Mitbewohnerinnen nicht beklagen. Vier Wochen (und noch länger?) bezahlter Urlaub in La Rochelle ist auch nicht das Schlimmste auf der Welt. So haben wir wieder unsere Pläne aufgenommen: Radtouren, Besuche auf dem Markt, Filmabende, gemeinsames Grillen,… Es könnte mir wirklich schlechter gehen. Ich sehe den Lockdown einfach als großes Zeitgeschenk an. Und das ist nach den vielen Wochen Arbeit blicke ich somit versöhnt auf wunderbare Wochen.

Gemeinsam mit den anderen Freiwilligen blicke ich jetzt auf wunderbare Wochen, die wir richtig gut genutzt haben! Ich wurde sogar bei einer Lehrerin über Ostern eingeladen und habe gelernt, wie man Austern richtig öffnet. Da braucht man nämlich die richtige Technik. Mit ihr und ihrer Familie habe ich die Île Madame besucht. Das ist eine Insel, die über einen Steinweg zu erreichen ist, der bei Flut jedoch komplett mit Wasser bedeckt ist. Und ein Reisetipp für euch: Sucht euch im Internet die Zeiten zur Ebbe heraus und beobachtet, wie der Weg freigespült wird. Das ist ein tolles Erlebnis und so muss es gewesen sein, als Noah das Meer teilte. Autos scheinen mitten ins Wasser zu fahren, doch nach fünf Minuten ist der Weg schon trocken. Man findet dann allerlei Schätze, wie Austern oder kleine Muscheln. Ich hab eine kleine Auster gefunden, die ich dann zum Mittagessen zusammen mit den Austern vom Markt verspeist habe. Die Gezeiteninsel heißt übrigens „Madame“, weil die Mätresse (Anne Rohan de Soubise) des Sonnenkönigs all ihre Besitztümer „Madame“ nannte.

Ansonsten war ich schon Ende März im Atlantik baden, hab die Poitou-Esel auf der Île de Ré besucht und ich habe die ersten Croissants in meinem Leben gebacken! Merke: das nächste Mal nicht die billigste Butter vom Intermarché nehmen. Auch das Treffen mit der chinesischen Sprachasistentin und der amerikanischen, die bei den anderen Freiwilligen in La Rochelle wohnen, ist immer wieder ein Erlebnis. Ich habe gelernt, dass man im Chinesischen keine Verben konjugieren muss und wir sind uns einig, dass man auf Französisch unmöglich „ich freue mich“ sagen kann, ohne dass es sexuelle Anspielungen enthält bzw. dass man als Ausländer abgestempelt wird. Doch über die französische Sprache macht man sich nur so lang lustig, bis die chinesische Mitbewohnerin beim Pizzabacken „Trockenbackhefe“ versucht, auszusprechen.

 

 

Online-Fotoworkshop

Online-Schreibworkshop

auf der schönen Île de Ré

immer schön in der „Queuleuleue“ bleiben

noch mehr Île de Ré

ganz stolz

Voilà, voilà!

Der Wohnwagen wartet darauf, dass der Weg frei wird.

der Weg zur Île Madame bei Ebbe

erste Versuche beim Austern Öffnen

Blätterteig-Liebe

in Frankreich bringen die Osterglocken die Eier

Ernest in La Rochelle hat alles, was das Herz begehrt

Vendredi en colère – Demos in La Rochelle 

Entspannung im Lockdown – die Croissants sind im Ofen

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