Die Woche vor dem Lockdown

Wenn ich jetzt auf die zweite Ferienwoche zurückblicke, kommt es mir fast unwirklich vor, dass ich das alles in dem nächsten Monat nicht noch einmal erleben kann. Denn jetzt tausche ich meine alltägliche Freiheit gegen 1 Stunde am Tag Bewegung in einem Umkreis von einem Kilometer.

Gleichzeitig bin ich so dankbar für diese wundervollen Ferien. Diese Erfahrungen kann mir keiner nehmen.

Ich hatte diese Woche Besuch von meiner Familie aus Deutschland und somit hat die zweite Woche Ferien in La Rochelle doppelt so viel Spaß gemacht. Außerdem bekam ich nochmal einen anderen Blick auf die französische Kultur. Dass man die Müllsäcke einfach täglich vor die Haustür legt und auch jeden Tag das Müllauto kommt, ist mir zum Beispiel noch gar nicht aufgefallen. „Das sind ja paradiesische Zustände!“, waren meine Eltern der Meinung. Und wenn man den Müll noch nicht rausgeschafft hat, rannte man einfach dem Müllauto hinterher, sie nahmen es lachend an.

Meine Familie passte sich schnell an den französischen Rhythmus an. Am ersten Tag zum Déjeuner (Mittag) aßen wir endlich „Moules et frites“ – Miesmuscheln mit Pommes. Sie schmeckten anders als im Süden, feiner und süßer. Ein Traum. Und die Muscheln waren erst der Anfang unserer kulinarischen Reise durch die Welt des Atlantiks. 

Wir besuchten gleich zu Beginn der Woche die berühmte Île de Ré. Das ist eine Insel, die 1,6 km westlich von La Rochelle liegt. Man kann sie über eine Brücke erreichen.

In einem Freiluft-Restaurant war noch ein kleiner Tisch direkt am Wasser für uns frei. Naja kein Wunder, dass die Franzosen so gelassen sind. Gutes Essen lässt selbst die Ratten vergessen, die ich entsetzt zwischen den Steinen neben unserem Tisch entdeckte. Darüber sieht man hier hinweg. Venusmuscheln schmecken übrigens wie gute Bonbons.

Weiter ging‘s mit den Jakobsmuscheln. Ihr wisst ja bestimmt noch, dass meine Tutorin mir gezeigt hat, wie man diese brät. Jetzt wollte ich das auch ausprobieren. Auf dem Wochenmarkt, der hier täglich (auch Sonntag) ausschließlich feinste Lebensmittel feilbietet, mussten wir feststellen, dass diese Muscheln sehr beliebt und schnell ausverkauft sind. Aber am nächsten Tag standen wir früh auf und ergatterten welche.

Der Fischhändler schaute uns deutsche Käufer skeptisch an. Er fragte mich besorgt, ob ich denn auch weiß, wie man Jakobsmuscheln kocht. „Äh ja mit Cognac.“, antwortete ich. Da rief er energisch, ich solle bloß nicht zu viel nehmen. Ok, geht klar Chef. Da hatte wohl jemand Angst um seine Muscheln.

Langusten, Doraden und nochmal Austern kamen im Laufe der Woche auf den Tisch.

Und na klar wollten wir dann unbedingt selbst Austern suchen. Auf der Île de Ré versuchten wir unser Glück. Tja, die Eimer blieben leer, aber dafür genossen wir eine unglaublich schöne Wattwanderung. Man musste genau die Ebbe abpassen, um nicht aus Versehen Wasser zu schöpfen. Trotzdem blieben wir stecken und ohne Hilfe kommt man aus dem Schlick echt nicht mehr raus. Lachflashs gab‘s gratis.

Die Île de Ré beeindruckte uns. Kurz, es gibt insgesamt 10 Fischerdörfer auf dieser Insel, die mit den Kiefernwäldern, den Salzgärten und den Stränden zu einer reinsten Harmonie verschmelzen. Alle Häuser sind weiß, ebenerdig und haben grüne oder graue Fensterläden. Es ist Entspannung fürs Auge, überall wo man hinsieht ist es ruhig und knallige Farben wurden von der Insel verbannt. Ich spürte regelrecht das Aufatmen jetzt im Herbst, denn im Sommer soll es hier nur so boomen.

Kennt ihr schon die knuffigen Poitou-Esel? Sie sind das Wahrzeichen der Insel und wurden nach der Region Poitou benannt, ein Gebiet hier im Westen Frankreichs. Der Esel ist vom Aussterben bedroht und wenn ihr ihn nicht nur im Zoo betrachten wollt (z. B. in Berlin), kommt her! Leider sind sie gar nicht so süß sondern total stur.

Was man auf der Insel lieben lernt, sind die weiten Strände, die aufbauschenden Wolken und die gigantischen Wellen. Es war anders als in Biarritz, denn Wind und Wellen hatten ohne schützende Stadtmauern freie Fahrt. Unser Drachen überlebte das leider nicht. Wir waren total fertig und überglücklich nach so viel Seeluft.

Dann sehnten wir uns nach den aufregenden Naturerfahrungen nach etwas Kultur. Dafür eigneten sich die Türme von La Rochelle perfekt. Denn ich spazierte jetzt schon so oft an diesen Türmen vorbei, ohne einmal hinaufgestiegen zu sein. In La Rochelle gibt es drei Türme: le Tour de la Lanterne, le Tour de la Chaîne und le Tour Saint-Nicolas. Sie ergeben zusammen ein herrliches Postkartenmotiv.

Gott sei Dank flog damals die Fee Mélusine über die Stadt und ließ ein paar Steine aus ihrer Schürze fallen. Sonst wäre der Turm Saint-Nicolas nie entstanden. So will es zumindest die Legende.

Wir stiegen jedoch auf den Turm Lanterne. Er war ein ehemaliger Leuchtturm und ein Gefängnis. Vielleicht kennt jemand von euch die „Vier Sergeants“. Das waren Revolutionäre, die einen Putschversuch gegen Ludwig XVIII. planten. Zwei von ihnen wanderten in den Knast, in den Turm Lanterne von La Rochelle. Unvorstellbar, dass die Innenmauern, die wir berührten, die gefangenen Piraten damals für Jahrzehnte ansehen mussten. Ihnen war so furchtbar langweilig, dass sie unzählig viele Schiffe und andere Kunstwerke in die Mauern ritzten.

Und nachdem man alle Stufen hinaufgestiegen und an Platzangst fast gestorben ist, wird man oben von einer wunderschönen Aussicht belohnt. Kontrastreich sind die Aussichten Richtung Westen und Osten. Denn wenn man einmal um den Turm herumläuft, sieht man auf der einen Seite, wie eng und gedrungen La Rochelle gebaut wurde und auf der anderen Seite erblickt man den Luxus eines Stadtstrandes und die unendliche Weite des Meeres. Und jetzt muss man ganz tief Luft holen!

Uns hat die Höhe anscheinend nicht gereicht, denn kurze Zeit später saßen wir in einer Gondel im Riesenrad hoch über der Stadt. Lustig, zwei Frauen bedienen die Technik und den Verkauf der Tickets. Aber gleich um die Ecke schmeißen ausschließlich Männer den Café- und Restaurantbetrieb.

Am nächsten Tag musste ich meiner Familie unbedingt den „Parc Commercial Beaulieu“ zeigen. Ich weiß nicht, ob so ein riesiges Gewerbegebiet auch in Deutschland existiert, ich kenne es nur aus Amerika. Mehr als 250 Geschäfte sind da aneinandergereiht – es gibt wirklich alles. Aber nach drei Geschäften kann man in der Regel nicht mehr, da eins schon so groß ist wie ein riesiges Kaufhaus. Plunder, Klimbim und Schnickschnack wohnen da, aber durchaus auch Hochwertiges.

Ich werde den „Parc Commercial Beaulieu“ ganz schön vermissen. Man darf gar nicht dran denken, wie sehr sich die Läden mit dem Weihnachtskram befasst haben, der jetzt durch den Lockdown nicht verkauft werden kann.

Doch zurück zu den schönen Dingen: Wir bemerkten schnell, dass auch ein Spaziergang durch La Rochelle ausreicht, um einen Tag zu füllen. Am Hafen beobachteten wir die Baby-Segelschule. Kleinkinder in gelben und orangenen Regenmänteln wuselten aufgeregt um die Segellehrerin herum und freuten sich endlich in ihrem kleinen Segelboot das Meer zu erobern. Auch bei Starkregen war das für sie kein Problem. Sowieso ist es normal in La Rochelle glücklich zu sein, auch wenn man komplett nass ist. Regenradar = bester Freund.

Als wir vom Hafen in Richtung Stadt spazierten, wartete ein kleiner Straßenverkauf mit der besten heißen Schokolade der Stadt auf uns. Dunkle Schokolade schmeckte am besten mit einer Kugel Vanilleeis. Und da es gerade nicht regnete, setzten wir uns an die Kante des Hafenbeckens und schauten den Möwen beim Streiten zu, währenddessen sich das Eis mit der dickflüssigen Schoki vermischte.

Weiter ging‘s in die Innenstadt, an der Post vorbei zum Markt. Die Gassen waren passend zum rosa Oktober mit rosa Regenschirmen geschmückt. In einigen Gassen wurden schon die Weihnachstgirlanden aufgehängt und versprechen eine romantisch leuchtende Weihnachtszeit. Der Markt war das Highlight des Spaziergangs und wirkte mit seiner schicken Markthalle aus dem 19. Jahrhundert echt pompös. Aber um sich in diesem Schlaraffenland zurecht zu finden, brauchte man Zeit.

Der Käseverkäufer verbrachte tatsächlich 10 Minuten damit, einen einzigen Käse einzupacken und als wir dann endlich dran waren, lächelte er nur, und meinte, er kommt gleich wieder. Da hat er sich doch erstmal einen Schnaps gegönnt. 

Wir mussten also unsere deutsche Schnelllebigkeit ablegen. Dann machte es auch Spaß sich mit den Verkäufern zu unterhalten und alles in Ruhe auszusuchen. Franzosen gönnten sich während des Slow-Shoppings gern eine Pause und schauten dem bunten Treiben an einem petite table mit einem petite café zu. Ob ich das mit der Ruhe je lernen werde?

Die Spezialitäten des Marktes wurden abends in der Ferienwohnung vernascht. Eine wunderbare Zeit war fast zu Ende. Und was für ein Ende! Präsident Macron verkündete am Mittwoch für die Nacht von Donnerstag auf Freitag die Einschränkungen – keiner konnte das so schnell begreifen. Deutschland und Frankreich gehen in den zweiten Lockdown, hieß es dann. 

Also blieb uns am Donnerstag nichts anderes übrig als noch einmal in alle Läden zu gehen, die dann schließen mussten. Es war ein Schock für alle. Am Schmuckladen stand draußen dran „Wir werden euch vermissen!“. Viele Ladenbesitzer klebten panisch „30%“ oder „50% auf alles“ an die Schaufenster. Die Eisverkäuferin machte keine neue Packung Schokoladeneis auf. Sie erklärte mit einem milden Lächeln, dass es sich ja nicht lohne. Eine Verkäuferin in einer Boutique ließ uns so viele Sachen in die Umkleide schleppen, wie wir wollten. „Es ist ja das letzte Mal“.

Und so reiste meine Familie Ende der Woche ab und ich blieb allein im Lockdown zurück. Ich brauchte erst einmal Zeit, um das alles zu realisieren. Aber mich erfreute die Kreativität der Franzosen, wie ein Pflanzengeschäft ganz schnell einen Verkaufsstand auf dem Markt eröffnete oder der Späti Zwiebeln vor dem Laden verkaufte.

Ich brauche jetzt immer eine Genehmigung, um raus zu gehen, die ich mir im Internet herunterlade. Was ich im Frühjahr von Frankreich hörte, erlebe ich nun selbst. Aber die Schulen bleiben offen und ich hoffe, dass es trotzdem lehrreiche und amüsante Wochen werden. Beim Spazierengehen lausche ich oft Gesprächen. Es geht entweder um das Confinement (Lockdown) oder ums Abendessen :))

Bis bald!

Wer isst nicht gern Austern direkt neben dem Meer?

selbst gebratene Jakobsmuscheln stilecht serviert

Wattwanderung – wenn sich Himmel und Erde küssen

die Poitou-Esel: knuffig oder stur?

Flieg Drachen!

links der Turm de la Chaîne, rechts der Turm Saint-Nicolas

und noch einmal die zwei Türme, die ein Gefangener im Turm Lanterne in die Mauern gravierte

Baby-Segelschule

die Markthalle aus dem 19. Jahrhundert

der letzte Tag vor dem Lockdown

die Bescheinigung, wenn ich raus möchte

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